Technokratisches gegen humanistisches Menschenbild

Mit dem Impfangebot an alle ist das Ziel der politischen Reaktion auf die Coronapandemie erreicht: Jeder, der es möchte, kann sich durch eine Impfung vor dem Virus schützen. Wenn die Impfung wirksam ist, dann hat der Staat jedem mit dem kostenfreien Impfangebot den bestmöglichen Schutz zur Verfügung gestellt, den er leisten kann. Es ist daher Zeit, dass der Staat sich zurückzieht und die Corona-Einschränkungen aufhebt.


Es ist weder wissenschaftlich noch juristisch oder ethisch vertretbar, Druck auf Personen auszuüben, die auf eine Impfung verzichten möchten. Wissenschaftlich gilt: Aus den Daten, die inzwischen aus vielen Ländern vorliegen, ist ersichtlich, dass die Impfquote in der Bevölkerung nur einer von vielen Faktoren ist, die den Verlauf der Ausbreitung des Coronavirus beeinflussen. Wie aus Israel und Island ersichtlich ist, aber auch aus dem Vergleich zwischen us-Bundesstaaten mit hoher und mit niedriger Impfquote, ist es nicht so, dass eine höhere Impfquote eine Gewährleistung dafür ist, die Pandemie einzudämmen.1 Rechtlich gilt: Die Impfstoffe haben nur eine bedingte Zulassung, u. a., weil wir mangels aussagekräftiger Studien noch gar nichts über mögliche Langzeitfolgen sagen können. Die bedingte Zulassung ist für eine Notsituation gedacht, um gefährdete Personen schnell schützen zu können, aber nicht für die Impfung von Personen, die durch das betreffende Virus gar nicht gefährdet sind. Ethisch gilt: Wenn Impfstoffe nur eine bedingte Zulassung haben, widerspricht es ethischen Prinzipien, in irgendeiner Weise eine soziale Pflicht zur Impfung zu konstruieren. Es ist ethisch unzulässig, Menschen dem Generalverdacht zu unterstellen, andere zu gefährden, ohne dass ein konkreter Verdacht vorliegt, und von ihnen zu verlangen, sich durch ein Zertifikat von diesem Verdacht reinzuwaschen, um am sozialen Leben teilnehmen zu können.

Die Qualität des Gesundheitssystems

Bis 2019 war es Stand der Wissenschaft, Pandemien mit rein medizinischen Mitteln zu bekämpfen. So wurden die Asien-Grippe Mitte der 1950er Jahre und die Hongkong-Grippe Ende der 1960er Jahre erfolgreich bekämpft. Die Corona-Pandemie ist nicht gefährlicher als diese früheren Pandemien. Dennoch fand im Frühjahr 2020 ein Strategiewechsel statt hin zu dem Versuch einer politischen Bekämpfung mit Zwangsmaßnahmen für die Bevölkerung. Inzwischen wissen wir, dass dieser Strategiewechsel gescheitert ist: Wenn man westliche Länder der nördlichen Hemisphäre betrachtet und sich die Daten zum Infektionsgeschehen wie Krankenhauseinweisungen und Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung anschaut, lässt sich aus diesen Daten nicht schließen, welche dieser Länder scharfe politische Maßnahmen wie Lockdowns ergriffen haben und welche nicht.2 Länder mit scharfen Maßnahmen wie Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien schneiden keinesfalls gut ab, sondern ziemlich schlecht. Schweden hingegen steht ziemlich gut dar, obwohl nur sehr wenige Maßnahmen ergriffen wurden. Aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen US-Bundesstaaten, wie South Dakota und North Dakota oder Florida und Kalifornien: South Dakota und Florida haben gar keine oder nur wenige Maßnahmen ergriffen. North Dakota hat mehr Maßnahmen und Kalifornien ziemlich scharfe Maßnahmen verhängt. Diese unterschiedliche Politik hat aber zu keinen signifikanten Unterschieden im Pandemieverlauf insgesamt betrachtet geführt. Es gibt daher keine Korrelation zwischen den gesamtgesellschaftlichen Zwangsmaßnahmen und der Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen im Zusammenhang mit einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Hingegen besteht eine klare Korrelation zwischen dem allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung, der Qualität des Gesundheitssystems und dem wirtschaftlichen und sozialen Status. Je schlechter der allgemeine Gesundheitszustand (zum Beispiel viele übergewichtige Personen in den USA), je schlechter das Gesundheitssystem und je schlechter die wirtschaftliche und soziale Situation statistisch gesehen ist (zum Beispiel Afroamerikaner versus Weiße in den USA), desto mehr gibt es, bezogen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe, schwere Verläufe und Todesfälle. Dementsprechend stehen Deutschland und die Schweiz ziemlich gut da wegen des besseren allgemeinen Gesundheitszustandes in der Bevölkerung, dem gut ausgebauten Gesundheitssystem und dem relativ hohen Lebensstandard. Daraus folgt: Je mehr wir Ressourcen verschwenden, um die Ausbreitung des Coronavirus mit politischen Zwangsmaßnahmen für die gesamte Gesellschaft statt medizinischen Leistungen für die gefährdeten Personen zu bekämpfen, desto mehr untergraben wir die Grundlagen für den Gesundheitsschutz. Die Ressourcenverschwendung und die sozialen Spannungen, welche die Maßnahmen hervorrufen, verhindern, dass wir den Weg des technischen, wirtschaftlichen, medizinischen und sozialen Fortschritts weitergehen, der in den letzten Jahrzehnten zu einer großen Verbesserung der Gesundheit und der Lebenserwartung geführt hat. Die allermeisten von uns müssen für die Corona-Politik einen hohen Preis an beeinträchtigter Lebensqualität und wahrscheinlichem Verlust an Lebenszeit zahlen, ohne dass diese Politik nachweisbaren Nutzen hätte.

Was der Rechtsstaat schützen sollte

Mit dem Strategiewechsel von der medizinischen zur politischen Pandemiebekämpfung ist auch ein Wechsel im Menschenbild verbunden: Ein technokratisches Menschenbild tritt in den Vordergrund. Man sieht die Menschen als biologische Objekte an, die Viren verbreiten und deren Bahnen man gemäß Modellrechnungen steuern kann, soll und muss. So ein Unterfangen ist schon naturwissenschaftlich unsinnig, weil wir es nicht mit einem begrenzten Laborexperiment mit Objekten unter idealen Bedingungen und wenigen, kontrollierbaren Parametern zu tun haben; der entscheidende Parameter ist vielmehr die spontane Verhaltensanpassung Menschen. Es ist ferner unsinnig, weil die Naturwissenschaft nur Fakten aufdeckt, aber keine Normen vorgeben kann. In dem humanistischen Menschenbild steht hingegen die Würde des Menschen im Mittelpunkt. Diese besteht in dem Vermögen, selbständig nach Gründen Urteile zu fällen und gemäß diesen Urteilen zu handeln, also in der Freiheit im Denken und Handeln.3 Daraus folgen Freiheitsrechte, die Abwehrrechte gegen äußere Eingriffe in die eigene Lebensgestaltung sind. Der Rechtsstaat schützt diese Rechte, ist aber nicht ihre Quelle. Es ist daher eine Perversion sowohl des Rechtsstaates als auch der Wissenschaft, zu denken, dass diese Freiheitsrechte vom Staat gewährt oder verweigert werden können unter Bedingungen, die auf vorgeblich wissenschaftlicher Basis festgesetzt werden. Wir dürfen uns nicht von Wissenschaftlern blenden lassen, die von der Idee gefangen sind, sie hätten ein Wissen zur Steuerung der Gesellschaft. Und wir dürfen uns nicht von Politikern verführen lassen, die aus Machtinteressen dieses angebliche Wissen aufgreifen. Beide zerstören die Wissenschaft und den Rechtsstaat. Schließlich dürfen wir bei aller berechtigten Besorgnis und Unsicherheit um die Ausbreitung des Coronavirus nicht das humanistische Menschenbild fallen lassen, auf dem auch die Anthroposophie beruht.


Grafik: Fabian Roschka

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Siehe Gilbert G. Berdine, ‹Covid-19 vaccines and the Delta variant›, 30. August 2021.
  2. Studien in Eran Bendavid et al., ‹Assessing mandatory stay-at-home and business closure effects on the spread of covid-19›, European Journal of Clinical Investigation 51 (2021), e 13484. Siehe ferner: Vincent Chin et al., ‹Effect estimates of covid-19 non-pharmaceutical interventions are non-robust and highly model-dependent›, Journal of Clinical Epidemiology 136 (2021), S. 96-132; R. F. Savaris et al., ‹Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study›, Nature Scientific Reports 11 (2021), Artikel Nr. 5313.
  3. Siehe dazu Michael Esfeld, Wissenschaft und Freiheit. Berlin 2019.

Letzte Kommentare