Spuren eines mit Vorbedacht durchgeführten Raubzuges der russischen Invasoren: eine zerschlagene Vitrine im Regionalmuseum von Cherson, aufgenommen im vergangenen Dezember.

Foto: APA/Dilkoff

Als Olha Hontscharowa Mitte November wenige Tage nach der Rückeroberung Chersons durch die ukrainischen Streitkräfte in das Regionalmuseum zurückkehrte, fand sie Spuren der Verwüstung vor. Die Glasvitrinen waren zerschlagen, die Exponate der historischen Dauerausstellung verschwunden. Massiv betroffen war auch das Depot der 1890 gegründeten Institution, es fehlten Gold und Silber aus archäologischen Ausgrabungen und die Münzsammlung.

"Das sah nicht wie eine Evakuierung aus", erzählt die Interimsdirektorin des Museums im Telefonat. Was in ihrem Haus zwischen 26. und 28. Oktober genau passiert ist, kann Hontscharowa nur rekonstruieren. Es seien Lastwagen mit überklebten Autokennzeichen gekommen und Busse mit etwa 70 Personen, die begonnen hätten, alles wegzutragen. Einige Männer hätten zudem Geländewagen im Innenhof geparkt, in die sie historische Waffen aus der Sammlung luden. Letzteres sei ein "banaler Raub zur persönlichen Bereicherung" gewesen, schildert sie. Wohin die Sammlung gebracht wurde, ist unbekannt.

Putin unterstellt

Ein paar Tage nach dem Regionalmuseum waren das Regionalarchiv und das Kunstmuseum an der Reihe. "Laut meinen Eindrücken hat Russland zwischen 30 und 50 Prozent aller Dokumente des Regionalarchivs gestohlen, insbesondere aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert", kommentierte der Chef der ukrainischen Archivverwaltung, Anatolij Chromow, die Vorgänge. Wo sich die Archivalien nun befinden, ist unklar. In einem Brief bestätigte Mitte November die Präsident Putin unterstellte russische Archivagentur, involviert gewesen zu sein. Weitere Details wollten die Moskauer Bürokraten nicht offenlegen.

Von anfänglich etwa zehn "Spezialisten", die im Kunstmuseum aufgetaucht seien, berichtete dessen Vizedirektorin Hanna Skrypka. "Die von den Russen eingesetzte ‚Direktorin‘ sagte, dass diese Leute das Kulturministerium der Russischen Föderation vertreten und die ‚Evakuierung‘ der Sammlung leiten würden", erläuterte sie gegenüber dem STANDARD. Diese Personen seien durch das Museum gegangen, hätten zunächst das Wertvollste eingepackt und anschließend alles. Die "Direktorin" habe dabei ungewollt verraten, dass die Sammlung auf die annektierte Krim transportiert werden solle. Ende November tauchten tatsächlich Fotos aus dem Tawrida-Zentralmuseum in Simferopol auf, auf denen einige Werke aus Cherson identifiziert werden konnten. Infolgedessen bestätigte auch Tawrida-Direktor Andrej Malgin dem russischen Sender RTVi, dass sein Museum vorübergehend einen Teil der Chersoner Sammlung aufgenommen habe. Das russische Kulturministerium ließ eine Anfrage des STANDARD unbeantwortet.

Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg

Gerade in einem sowjetischen Kontext erinnern die Vorgänge in Cherson zwangsläufig an den großangelegten Kulturgutraub der Nazis während des Zweiten Weltkriegs: Das dem Außenminister Ribbentrop unterstellte Sonderkommando Künsberg, der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg und der SS-Verein Ahnenerbe plünderten seinerzeit gerade in besetzten Teilen der Sowjetunion. Bereits 1942 widmete der bekannte Dichter Demjan Bedny den "Faschistischen Kunsthistorikern" deshalb auch ein Gedicht, in dem den Nazis eine "furchtbare Stunde der Vergeltung" angekündigt wurde. In den Nürnberger Prozessen, die im offiziellen russischen Selbstverständnis weiterhin eine wichtige Rolle spielen, wurde NS-Ideologe Alfred Rosenberg 1946 unter anderem für die Organisation von Plünderungen zum Tod verurteilt.

Wer diese aktuelle russische "Operation" in Cherson organisierte, bleibt unklar. Alle Indizien sprechen für die Involviertheit unterschiedlicher Behörden und somit für einen sehr mächtigen Auftraggeber. Infrage kommen neben dem Geheimdienst FSB eigentlich nur Spitzenvertreter der Kreml-Administration wie Sergej Kirijenko, er gilt als "Kurator" für die besetzten Gebiete, oder Präsident Putin selbst.

Ideologisches Motiv

Auffällig ist aber auch, dass aus anderen vorübergehend von Russland besetzten Regionen der Ukraine derartige Leerräumungen bisher nicht bekannt wurden. Ein ideologisches Motiv liegt daher nahe: Cherson spielte als Zentrum des damaligen "Neurussland" eine zentrale Rolle in der russischen Imperialgeschichte, an deren Wiederbelebung Putin interessiert ist.

"Die Russen wollen zeigen, dass vor Ort alles im späten 18. Jahrhundert mit Kaiserin Katharina angefangen hätte", erklärte Regionalmuseumsdirektorin Hontscharowa. Denn gerade ihre geraubte Dauerausstellung habe gezeigt, dass viele Völker in der Region gelebt haben und von einem bloß russischen Territorium keine Rede sein könne. Dass die Besatzer vor ihrem Abzug auch den 1791 verstorbenen Stadtgründer Grigori Potjomkin in der Katharinen-Kathedrale exhumiert und mitgenommen haben wollen, erachtet die studierte Historikerin indes für eine "Inszenierung". "Nach wiederholten Exhumierungen sowie Vandalenakten durch die Bolschewiken gab es dort kaum noch wirkliche Überreste von ihm." (Herwig G. Höller, 20.1.2023)