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Berufstätige mit Behinderung »Es zählen nicht nur meine Fähigkeiten, sondern auch mein Rollstuhl«

Eine Studie zeigt: Frauen mit Behinderung verdienen auf dem Arbeitsmarkt weniger als jede andere Gruppe – auch wenn sie die gleichen Jobs machen wie Männer. Bericht aus einer Welt voller Barrieren.
Kennen viele Barrieren: Frauen im Rollstuhl (Symbolbild)

Kennen viele Barrieren: Frauen im Rollstuhl (Symbolbild)

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Sigrid Gombert / DEEPOL / plainpicture

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Fünf Jahre lang arbeitete Dilek Özkaya in der Firma als Kommissioniererin. Sie verpackte Waren, bereitete den Versand vor. Auf ihre Schwerbehinderung wurde nicht groß Rücksicht genommen, doch Özkaya fühlte sich ernst genommen, arbeitete trotz Ihres schweren Hüftschadens wie eine gesunde Kraft, auch wenn sie bisweilen Schmerzen in den Beinen hatte. Sie machte ihren Job gut, und irgendwann übernahm sie auch verantwortungsvollere Aufgaben wie Koordinationen rund um den Warenein- und Ausgang.

Als eine Stelle als Kommissionierer frei wurde, riet sie ihrem damaligen Ehemann, sich zu bewerben. Sie selbst konnte nach mehreren Jahren in der Firma guten Gewissens den Arbeitsplatz empfehlen. Doch Dilek Özkayas Begeisterung für ihren Job endet in dem Moment, als sie die erste Gehaltsabrechnung ihres Mannes sieht: Er bekommt am Ende des Monats fast 20 Prozent mehr bezahlt.

Dilek Özkaya: »Mir wurden immer wieder Versprechungen gemacht, mein Gehalt anzuheben, doch sie wurden nie eingehalten«

Dilek Özkaya: »Mir wurden immer wieder Versprechungen gemacht, mein Gehalt anzuheben, doch sie wurden nie eingehalten«

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Privat

Für einen identischen, wenn nicht sogar geringerwertigen Job: Auch er war Kommissionierer, auch er hat eine Behinderung. Doch er übernahm keine weiteren Aufgaben, so wie Özkaya es tat. Weiterer Unterschied: Er ist ein Mann.

Warum er mehr verdiente als sie, erfuhr Özkaya nie. Sie wendete sich mehrfach an die Personalabteilung des Unternehmens. »Ich habe viel mit denen diskutiert«, erzählt die 42-Jährige, »mir wurden immer wieder Versprechungen gemacht, mein Gehalt anzuheben, doch sie wurden nie eingehalten.«

Heute arbeitet sie nicht mehr dort, die Firma existiert nicht mehr, ist Konkurs gegangen. Özkaya hatte schon Jahre zuvor gekündigt, weil sie ein Kind bekam. Sie ist mittlerweile als Buchhalterin bei Quick-Line Transport angestellt, einem Logistikunternehmen mit Sitz in Köln. Eine Initiative der Stadt Köln, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt, hatte Özkaya bei der Jobsuche unterstützt. Özkaya leidet seit ihrer Geburt an den Auswirkungen ausgehakter Hüftgelenke. Ihre beiden Beine sind beeinträchtigt, längeres Sitzen und längeres Stehen bereiten ihr große Probleme.

Özkaya gehört zu einer Bevölkerungsgruppe, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hat: Frauen mit einer Schwerbehinderung. Sie verdienen im Gruppenvergleich am schlechtesten. Bedeutet: Während Menschen mit Schwerbehinderung sowieso schon schlechter verdienen als Menschen ohne Handicap, sind Frauen in dieser Hinsicht noch mal schlechter dran. Denn auf den Malus der Schwerbehinderung kommt noch der Gender-Pay-Gap, der auch gesunde Frauen weniger verdienen lässt als ihre männlichen Kollegen. Das hat eine Studie der Aktion Mensch mit dem Sinus-Institut ergeben.

Etwa ein Viertel der mehr als 2000 Studienteilnehmer waren Frauen mit Schwerbehinderung. 27 Prozent von ihnen gaben an, dass sie weniger als 1000 Euro netto im Monat verdienen, im Vergleich zu 14 Prozent der Frauen ohne Behinderung. Von den Männern mit Schwerbehinderung liegen 12 Prozent bei unter 1000 Euro Nettoeinkommen, bei Männern ohne Behinderung sind es lediglich fünf Prozent. Die möglichen Gründe dafür sehen die Verfasser der Studie unter anderem in einer geringeren Wochenarbeitszeit bei Menschen mit Behinderung. Ob der niedrige Verdienst von Frauen mit Behinderung an schlechter bezahlten Berufspositionen liegt, kann die Studie nicht eindeutig belegen.

Weniger als vier von zehn Frauen mit Behinderung arbeiten Vollzeit

Bei einer Vollzeitanstellung fällt das Gefälle ähnlich drastisch aus. Von den befragten Frauen mit Schwerbehinderung arbeiten gerade einmal 37 Prozent in Vollzeit – im Vergleich zu 69 Prozent der Männer mit Schwerbehinderung. Interessant dabei: Als Grund gegen eine Vollzeitbeschäftigung geben 72 Prozent der Männer, aber nur 61 Prozent der Frauen mit Schwerbehinderung an, körperlich nicht zu mehr in der Lage zu sein. Psychisch fühlen sich ähnlich viele Frauen und Männer mit Schwerbehinderung nicht fähig, mehr zu arbeiten. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten klafft dennoch weit auseinander. Aus einer Auswertung des Sozioökonomischen Panels (SOEP) geht hervor, dass 35 Prozent der Frauen mit Schwerbehinderung überhaupt erwerbstätig sind, im Vergleich zu 43 Prozent bei Männern mit Behinderung.

Die Lohnungleichheit und das Gefälle in Führungspositionen haben für Karen Schallert zwei Gründe. Sie ist Personaltrainerin und hat sich auf Frauen mit Behinderung spezialisiert. Schallert hilft ihren Klientinnen, einen Weg zurück ins Arbeitsleben zu finden oder sich selbstbewusster bei Gehaltsverhandlungen zu präsentieren und unterstützt sie auf ihrem Weg zur Führungskraft. »Bei vielen Frauen fehlt dieses Selbstbewusstsein einfach«, sagt Schallert. Das, gepaart mit der bereits bestehenden Ungleichheit auf der anderen Seite, erschwere Frauen mit Schwerbehinderung den Arbeitsalltag enorm.

»Man will nicht danach beurteilt werden, dass man eine Einschränkung hat, sondern nach der Leistung.«

Karen Schallert

Schallert selbst leidet seit mittlerweile 18 Jahren an Multipler Sklerose. Sie sieht ihr Handicap nicht mehr als Nachteil. »Ich habe ein Alleinstellungsmerkmal«, sagt sie. 14 Jahre lang war sie als Personalleiterin in der freien Wirtschaft tätig, bis die Krankheit zu schlimm wurde und Schallert aufhörte. »Ich brauchte mehr Freiheit, muss mir auch mal eine Auszeit nehmen können«, erzählt sie. Doch ganz aufhören wollte sie nicht. Sie habe aus ihrer Arbeit als Beraterin vor allem eins gelernt: Menschen mit Behinderung sprechen bei ihrem Arbeitgeber nicht gern über ihren Status. Sie selbst tat es nicht und die meisten ihrer Klientinnen ebenfalls nicht. »Man will nicht danach beurteilt werden, dass man eine Einschränkung hat, sondern nach der Leistung«, betont Schallert.

Doch in vielen Fällen ist es den Betroffenen nicht möglich, ein Handicap zu verschweigen. Einfach, weil man es sieht. So wie bei Lisa Albrecht. Die 29-Jährige trat im Mai 2018, rund ein Dreivierteljahr nach ihrem Bachelorabschluss in Psychologie, eine Sozialarbeiterinnenstelle in Berlin an. Damals noch auf zwei Beinen. Doch nur wenige Monate später erkrankte sie plötzlich, war eineinhalb Jahre arbeitsunfähig. Seitdem sitzt Albrecht im Rollstuhl.

Als sie zurück auf ihre Stelle wollte, konnte ihr Vorgesetzter Albrecht keine Perspektive mehr bieten – Albrechts Arbeitsplatz war nicht rollstuhlgerecht. »Ich habe es einfach hingenommen, habe meinem Chef fast zugestimmt«, erzählt Albrecht. Heute bereut sie es, die Absage einfach akzeptiert zu haben. Sie begab sich auf Jobsuche, doch die lief überhaupt nicht gut. Auf 30 Bewerbungen kamen 30 Absagen, davon fünf persönlich, alle wegen fehlender Barrierefreiheit. Und Albrecht wurde schmerzlich klar: »Es zählen nicht nur meine Fähigkeiten, sondern auch mein Rollstuhl.«

Welche juristischen Möglichkeiten haben Arbeitnehmer mit Behinderung?

Rechtlich ist die Behandlung von Menschen mit Schwerbehinderung ziemlich eindeutig geregelt. Menschen mit einer Behinderung steht laut dem Neunten Sozialgesetzbuch eine differenzierte Behandlung in verschiedenen Bereichen zu. Mehr Urlaubstage, eine arbeitnehmerfreundlichere Kündigungsfrist und das Recht, den Arbeitsplatz behindertengerecht zu gestalten.

»Arbeitgeber müssen sich bewusst sein, dass hohe Bußgelder drohen, wenn sie die gesetzlichen Bestimmungen nicht einhalten«, sagt Lukas Fischer, Anwalt für Arbeitsrecht aus Düsseldorf. Wenn sich jemand beispielsweise im Bewerbungsprozess diskriminiert fühlt, kann eine zivilrechtliche Klage für Schadensersatz sorgen.

Wenn sich eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer bereits in einem Arbeitsverhältnis befindet oder vor der Erkrankung befand, ist ein anderer Weg denkbar: über das zuständige Integrationsamt oder die städtischen Integrationsfachdienste. Diese Stellen sind als Ansprechpartner für Minderheiten wie Menschen mit Schwerbehinderung da und helfen in vielen Fällen, einen Arbeitsplatz behindertengerecht zu machen. »Man kann nicht immer davon ausgehen, dass dort ein Aufzug ins Gebäude gesetzt wird, aber schon die Einrichtung eines Tele-Arbeitsplatzes zu Hause kann einer Person mit einer Schwerbehinderung ihren Job erheblich erleichtern«, erklärt Anwalt Fischer.

Unterstützung durch das Integrationsamt und die Jobbrücke

Lisa Albrecht hatte sich damals auf Anraten ihres Arbeitgebers an eine solche Stelle gewandt, die wiederum den Arbeitgeber für verantwortlich erklärte. Sie erzählt, dass das Integrationsamt ihr mitgeteilt habe, sie nicht unterstützen zu können. Albrecht entschließt sich schließlich, Hilfe bei der »Jobbrücke Inklusion Plus« zu suchen. Die Jobbrücke in Berlin ist ein Angebot für Menschen mit Behinderung, ihnen wird dort von meist im Beruf stehenden Jobpatinnen und Jobpaten Hilfe bei der Arbeitssuche angeboten.

Rund 30 Ehrenamtliche stellen der Jobbrücke derzeit ihre Hilfe zur Verfügung, erzählt Lina Antje Gühne, Leiterin des Projekts. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer kommen aus unterschiedlichen Branchen, neben Unternehmensberaterinnen und -beratern aus großen Konzernen sind auch Lehrerinnen und Lehrer, Polizistinnen und Polizisten sowie Coachinnen und Coaches mit dabei. Die Jobbrücke bringt die Ehrenamtlichen und Menschen wie Lisa Albrecht zusammen, ab dann geht der Austausch bilateral weiter.

Doch auch mit der Unterstützung der Jobpatin hatte Albrecht es nicht geschafft, einen neuen Job zu finden. Sie hatte irgendwann genug vom zermürbenden Bewerbungsprozess. Immer wieder abgelehnt zu werden, obwohl sie die Anforderungen an die Jobs erfülle, habe sie erschöpft. Gemeinsam mit ihrem Jobpaten entschied sie deshalb, erst ihren Master in Psychologie zu machen. Auch wenn sie weiß: Das Problem, einen gut bezahlten Job auf Augenhöhe zu bekommen, ist damit nur vertragt – und nicht gelöst.