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Risiken der Kommunikation 113 GAIA 9 (2000) no. 2 Es ist an der Zeit für eine neue Sicht gesellschaftlicher Realitäten. Der vorliegende Aufsatz untersucht die neuartigen Möglichkeiten der modernen Gesellschaft und ihrer Akteure in einem Übergangsstadium. Das Zeitalter der Industrialisierung, der sozialen Ordnung der Industriegesellschaft und der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nötig waren, um es zu bewältigen, steht vor dem Ende seiner Aufgaben. Die Grundlagen der sich am Horizont abzeichnenden Gesellschaftsordnung basieren auf Wissen. Sachlich und sozial nimmt gleichzeitig die Bedeutung des Nichtwissens für die Handelnden zu. Die Reflexion auf diese komplexen Sachverhalte muß nicht auf Relativismus oder Beliebigkeit des Wissens hinauslaufen, sie macht aber bewußt, in welchem Maß die Wissenschaft selbst riskant geworden ist, indem sie zunehmend zum Lieferanten politischer Probleme wird, und dies in einer Gesellschaft, die gar nicht anders kann, als sich Risiken zu leisten. Abstract & Keywords ➭ p. 159 Risikokommunikation und die Risiken der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens Zum gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen Gotthard Bechmann * und Nico Stehr ** Das Sichtbare der Welt eröffnet uns die Schau ins Unsichtbare. Anaxagoras[1], 500-428 v. Chr. I n den letzten Jahren scheint unser Verständnis von und der Umgang mit Risiken in der Gesellschaft sich gewandelt zu haben und differenzierter geworden zu sein. Diese geänderte Einstellung ist nicht zuletzt durch die wissenschaftliche Risikodebatte herbeigeführt worden. Unter den bisherigen Ergebnissen sind hervorzuheben: (1) Die erfolgreiche konzeptuelle Unterscheidung zwischen den Begriffen Risiko (oder genauer: Entscheidungsrisiko) und Gefahr, und (2) die Unterscheidung zwischen der Selbsteinschätzung von Risiken und der Fremdeinschätzung durch andere Akteure. Abgesehen jedoch von diesen Einsichten bleibt das Wissen über die Frage der Konstruktion und Kommunikation von Risiken in der modernen Gesellschaft noch umstritten. In diesem Aufsatz wollen wir Ergebnisse der neueren Risikodiskussion im Zusammenhang mit den Entwicklungen diskutieren, die zur Herausbildung eines neuen Typs von Gesellschaft führen. Der Wissensgesellschaft. Es soll gezeigt werden, daß so- wohl dem Risiko als auch der Wissensgesellschaft eines gemeinsam ist: die Thematisierung der zunehmenden Kontingenz der modernen Gesellschaft. Eine solche Untersuchung erfordert erstens einen Bezug auf die Struktur moderner Gesellschaften und einige ihrer Hauptmerkmale. Die moderne Gesellschaft kann am besten als Wissensgesellschaft verstanden werden. Zweitens beziehen wir uns auf das neu entstehende Verständnis der Philosophie und der Soziologie der Wissenschaft des wissenschaftlichen Handelns: Das Verständnis, daß wissenschaftliches Wissen im wesentlichen ein kontingenter Prozeß ist. Drittens werden wir uns im Detail auf den Stand und den Status der Risikoanalyse in den Sozialwissenschaften beziehen und dabei sowohl die Fortschritte, die dabei erzielt wurden, als auch die hartnäckigen Schwierigkeiten hervorheben, die es bezüglich der Abschätzung und Kommunikation von Risiken in modernen Gesellschaften noch gibt. 1. Wissensgesellschaften Im ersten Teil diskutieren wir kurz die These, daß die heutige Gesellschaft – oder präziser die Art von Gesellschaft, die im Entstehen begriffen ist, während die Indu- *Postadresse: Forschungszentrum Karlsruhe; Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) Karlsruhe; Germany **Postal address: Sustainable Development Research Institute, University of British Columbia, Vancouver, British Columbia, Canada striegesellschaft zurückweicht – am besten als „Wissensgesellschaft“ beschrieben wird.[2, 3] Unsere Verwendung dieses Begriffs, den wir als fruchtbarer betrachten als konkurrierende Begriffe wie Informationsgesellschaft[4], Netzwerkgesellschaft[5] oder postmoderne Gesellschaft[6], erfordert einige Rechtfertigung. Die heutige Gesellschaft kann als Wissensgesellschaft beschrieben werden, da sie in all ihren Bereichen von wissenschaftlichem und technischem Wissen durchdrungen wird. Im Ablauf des historischen Prozesses ist das Auftauchen von Gesellschaftsformationen, die wir als „Wissensgesellschaften“ analysieren, nicht etwa eine plötzliche Erscheinung, also in diesem Sinne auch keine revolutionäre Entwicklung. Diese umgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen müssen vielmehr als ein evolutionärer Prozeß verstanden werden, in dessen Verlauf sich das die Gesellschaft bestimmende Strukturmerkmal ändert bzw. ein neues hinzukommt. In der Regel sind Ende und Entstehung eines Gesellschaftstyps gleich langwierige Prozesse. Wissensgesellschaften sind nicht Ergebnis eines einfachen, eindimensionalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Obschon neuere Entwicklungen in der Kommunikations- und Transporttechnik etwa dazu beitragen, daß die einstige Distanz zwischen Gruppen und Individuen aufbricht, bleibt die erhebliche Isolation zwischen Regionen, Städten und Dörfern erhalten. Die Welt öffnet sich zwar, Werte Waren und Personen zirkulieren sehr viel Risiken der Kommunikation 114 GAIA 9 (2000) no. 2 intensiver, aber die Mauern zwischen den Überzeugungen darüber, was heilig ist und als identitätsbildend angesehen wird, bleiben bestehen. Bis vor kurzem wurde die moderne Gesellschaft hauptsächlich durch die Begriffe Eigentum und Arbeit bestimmt. Auf Grund dieser Attribute konnten – oder mußten – Individuen und Gruppen ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft definieren. Während die traditionellen Attribute Arbeit und Eigentum gewiß nicht völlig verschwunden sind, wird ein neues Prinzip „Wissen“ hinzugefügt, das Eigentum und Arbeit als die konstitutiven Mechanismen der Gesellschaft herausfordert und transformiert. Gerade diese zunehmende soziale, politische und ökonomische Bedeutung von Wissenschaft und Technik in der modernen Gesellschaft erfordert eine Analyse der Funktion des Wissens. Natürlich hat Wissen von jeher eine Rolle für das menschliche Zusammenleben gespielt. Man kann geradezu von einer anthropologischen Konstanten sprechen: soziales Handeln, soziale Interaktionen oder die soziale Rolle sind wissensgeleitet, und soziale Gruppierungen sind nicht bloß Herdenbildung, sondern sie sind symbolisch vermittelt, das heißt, sie beruhen auf Wissen. Alle Beziehungen zwischen Individuen beruhen grundsätzlich darauf, daß Menschen etwas voneinander wissen. Auch Herrschaft hat sich stets nicht nur auf physische Gewalt gestützt, sondern sehr häufig auch auf einen Wissensvorsprung. Und schließlich ist die gesellschaftliche Reproduktion nicht nur eine physische, sondern beim Menschen auch immer eine kulturelle, das heißt Reproduktion von Wissen. Das Phänomen Wissen und die Größe der Gruppen von Individuen, deren sozialer Einfluß und soziale Kontrolle auf Wissen basieren, werden in vielen Gesellschaftstheorien, in denen sie eine prominente Rolle spielen, in der Regel eher restriktiv konzipiert. Man begnügt sich typischerweise mit dem anscheinend für unproblematisch gehaltenen Verweis auf die gesellschaftliche Funktion der als besonders zuverlässig geltenden und von der Scientific Community ratifizierten objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis. Dieser in manchen Theorien der modernen Gesellschaft oft mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragene und von uns als oberflächlich charakterisierte Wissensbegriff ist in dieser Form keineswegs von gesellschaftlicher Belanglosigkeit. Im Gegenteil, der eng begrenzte Wissensbegriff hat eine nicht unerhebliche öffentliche Bedeutung und ebensolchen politischen Einfluß. Er verbindet die Annahme einer sozusagen konkurrenzlosen praktischen Effizienz mit der in der Wis- senschaft produzierten Erkenntnis. Gleichzeitig ist er der sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft bevorzugte oder vorherrschende Wissensbegriff. Damit setzt er auf den umfassenden Kredit und den großen Autoritätsbonus, deren sich insbesondere Naturwissenschaftler in der Gesellschaft erfreuen.[7] Ökologische Überlegungen appellieren oft stark an moralische und ästhetische Naturbegriffe als Quelle ihrer Überzeugungskraft: Die pragmatischen Folgen solcher Überzeugungen berufen sich dann jedoch typischerweise auf wissenschaftliche Definitionen und Informationen: Toxizität von Chemikalien, Funktion der Ozonschicht usw.[8] In der voranschreitenden Verwissenschaftlichung des Alltags, zum Beispiel im Gesundheitswesen oder der Bewertung von Risiken aller Art, manifestieren sich der kulturelle Vorrang und die gesellschaftliche Übermacht einer bestimmten Wissenskonzeption, die wiederum in der Mehrzahl der gängigen Theorien der modernen Gesellschaft ihre Entsprechung findet. Eine der unmittelbaren Folgen der Entstehung von Wissensgesellschaften für die Risikodebatte ist die Beobachtung, daß Wissensgesellschaften soziale Systeme sind, in denen Ereignisse nicht einfach stattfinden, sondern produziert werden. Wissensgesellschaften sind zunehmend von Menschen erzeugte Realitäten. Mit anderen Worten, der Bestand und der Zustand moderner Gesellschaften und ihre Zukunft sind demnach zunehmend entscheidungsabhängig. Und mit Entscheidungen entstehen Risiken. 2. Wissen über Wissen Wissen und Information, um vorläufig bewußt relativ allgemeine und ambivalente Bezeichnungen zu benutzen, sind höchst merkwürdige „Entitäten“ mit ganz anderen Eigenschaften als zum Beispiel Güter, Waren oder auch geheime Botschaften. Werden sie verkauft, so gehen sie an den Käufer über und bleiben doch auch Eigentum ihres ursprünglichen Produzenten. Außerdem verliert man in einem Tauschprozeß nicht die Verfügungsgewalt über das Wissen. Wissen hat keine Nullsummeneigenschaften. Im Gegenteil, Wissen ist ein Positivsummenspiel: alle können gewinnen. Allerdings ist die gleichgewichtige Verteilung des Gewinns keineswegs garantiert. Für viele Bereiche des Lebens mag es durchaus vernünftig, ja sogar notwendig sein, Wachstumsgrenzen zu setzen; für das Wissen scheint das nicht zu gelten. Dem Wachstum des Wissens sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Daß die „Wissensschöpfung“ oder die Wissensproduktion voll Ungewißheiten steckt, daß man sie kaum vorhersagen oder planen kann, ist seit langem bekannt. Die Überzeugung, daß die Wissensnutzung weitgehend risikolos sei und der Wissenserwerb Unsicherheit zu reduzieren helfe, hat man dagegen erst sehr viel später aufgegeben. Daß Wissenschaft nicht mehr nur Zugangsmöglichkeit und Schlüssel zum Geheimnis der Welt ist, sondern das Werden einer Welt mitbestimmt, hat man ebenfalls erst vor kurzem begriffen. Ebenso wie man erst in jüngster Zeit zur Überzeugung kam, daß wissenschaftliche Erkenntnisse trotz ihres gegenteiligen Rufs oft recht strittiger Natur sind, nicht unbedingt Lösungen bieten, sondern wenn sie einmal zu Grundlagen von Entscheidungshandeln werden, Probleme bzw. Risiken aufwerfen und Unentschiedenheiten produzieren. Wissen ist fast immer anfechtbar. Diese Eigenschaft gilt zwar im Kontext bestimmter wissenschaftstheoretischer Positionen als Besonderheit wissenschaftlicher Erkenntnisse und als Tugend; in pragmatischen Kontexten wird diese prinzipielle Anfechtbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis aber häufig verdrängt. Wir möchten Wissen als Fähigkeit zum sozialen Handeln (Handlungsvermögen) definieren, als die Möglichkeit etwas in „Gang zu setzen“. Unsere Begriffswahl stützt sich unmittelbar auf Francis Bacons berühmte und faszinierende These „scientia est potentia“ oder, wie diese Formulierung häufig, aber irreführend, übersetzt wurde: Wissen ist Macht. Bacon behauptet, daß der besondere Nutzen des Wissens sich von seiner Fähigkeit ableitet, etwas in Gang zu setzen. Der Begriff potentia, die Fähigkeit, umschreibt hier die „Macht“ des Wissens. Wissen erfüllt gewiß nur dort eine „aktive“ Funktion im gesellschaftlichen Hand- Wissen Wir verstehen Wissen als Handlungsvermögen, als die Möglichkeit, etwas in „Gang zu setzen“. Unsere Begriffswahl stützt sich unmittelbar auf Francis Bacons berühmte These „scientia est potentia“, oder wie diese Formulierung häufig, aber irreführend, übersetzt wurde: Wissen ist Macht. Bacon behauptet, daß sich der besondere Nutzen des Wissens von seiner Fähigkeit ableitet, etwas in Gang zu setzen. Wissen als symbolisches System strukturiert die Realität. Wissen ist ein Modell für die Wirklichkeit. Wissen illuminiert. Es ist potentiell in der Lage, die Realität zu verändern. Der Begriff potentia, die Fähigkeit, umschreibt hier die „Macht“ des Wissens. Wissen ist Entstehen und damit ist Wissen mehr als Kenntnis und „bekannt“ sein. Risiken der Kommunikation 115 GAIA 9 (2000) no. 2 Relativität, von Maurits Cornelis Escher lungsablauf, wo Handeln nicht nach im wesentlichen stereotypisierten Mustern (Max Weber) abläuft oder ansonsten weitgehend reguliert ist, sondern wo es Entscheidungsspielräume oder -notwendigkeiten gibt. Für Karl Mannheim[9] beginnt soziales Handeln deshalb auch erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo nicht regulierte Situationen zu Entscheidungen zwingen. Darüber hinaus und im Gegensatz zu dem, was die klassische funktionalistische Differenzierungstheorie nahelegt, gibt es gerade in vielen kritischen Fragen über das Wirken natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse keine kognitive Gewißheit. Das heißt, die Wissenschaft kann keine Wahrheiten (im Sinne von bewiesenen Kausalketten oder gar universellen Gesetzen) liefern, sondern nur mehr oder weniger gut begründete Vermutungen, Szenarien und Wahrscheinlichkeiten. Statt Quelle von gesichertem Wissen und Gewißheit zu sein, ist die Wissenschaft damit Quelle von Unsicherheit. Und anders als es rationalistische Wissenschaftstheorien vorschlagen, ist das Problem nicht dadurch zu lösen, daß man zwischen „guter“ und „schlechter“ Wissenschaft (oder zwischen Pseudowissenschaft und richtiger Wissenschaft) unterscheidet. Wer sollte dies unter Bedingungen der Unsicherheit auch tun können? Der besondere, ja geradezu herausragende Stellenwert des wissenschaftlichen und technischen Wissens in der modernen Gesellschaft resultiert nicht aus der Tatsache, daß wissenschaftliche Erkenntnis immer noch weitgehend als ein wahrhaftiger, objektiver, das heißt realitätskonformer Maßstab oder als eine unstrittige Instanz wahrgenommen oder behandelt wird – angesichts dessen Rufs viele Gruppen und Individuen in unzähligen alltäglichen Situationen bereit sind, ihre Zweifel und Bedenken zurückzustellen. Der besondere soziale, aber vor allem ökonomische Stellenwert ergibt sich daraus, daß wissenschaftliches Wissen mehr als jede andere Wissensform kein stati- sches Wissen repräsentiert und permanent zusätzliche Handlungsmöglichkeiten erzeugt und konstituiert. In der modernen Ökonomie erhält neues Wissen ähnlich wie im Wissenschaftssystem einen besonderen, lohnenden Stellenwert, nicht zuletzt indem zusätzliches Wissen in die Nähe einer Ware rückt und Wettbewerbsvorteile verspricht.[10-12] Wissenschaftliche Erkenntnis repräsentiert somit Handlungsmöglichkeiten, die sich ständig ausweiten und verändern, indem neuartige Handlungschancen produziert werden, die, wenn auch nur vorübergehend, „privat appropriiert“ werden können. Hebt man die (gedachte) Trennung von Wissen und Handeln wieder auf, so signalisiert die Definition von Wissen als Handlungsvermögen zudem, daß die Realisierung oder die Anwendung von Wissen immer unter bestimmten sozialen und kognitiven Rahmenbedingungen stattfindet. Und insofern die Realisierung von Wissen von bestimmten Bedingungen abhängig ist, haben wir gleichzeitig einen wichtigen Verweis auf die Relation von Wissen und Macht. Die Kontrolle der für die Implementation von Wissen notwendigen sozialen und kognitiven Bedingungen erfordert einen bestimmten Grad von Macht. Je größer zum Beispiel der Umfang des zu realisierenden praktischen Projektes, desto größer die notwendige Macht, um die sozialen und kognitiven Rahmenbedingungen, die die Realisierung des Wissens als Handlungsvermögen erlauben, kontrollieren zu können. 3. Wissenschaft und die neue Unsicherheit in der Gesellschaft Wissenschaft erzeugt nicht nur neues Wissen, sondern auch neue Unsicherheiten. Durch wissenschaftliche Entdeckung werden gleichzeitig neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet und komplexere Entscheidungslagen erzeugt. Dadurch entstehen Gefahren und Risiken für die Gesellschaft. Die Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis können in den Anwendungssystemen konstruktiv und destruktiv sein. Gerade Ulrich Beck hat nie nachgelassen, auf diesen Aspekt des wissenschaftlichen Fortschritts vehement hinzuweisen (zuletzt siehe Beck[13], Seite 276f.). Mit Hilfe des Wertfreiheitspostulats hat sich die Wissenschaft von den verursachten Schäden selbst freigesprochen, indem sie sich Indifferenz gegenüber ihren gesellschaftlichen Auswirkungen verordnet hatte. Angesichts des in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts massiv entstandenen und gesellschaftsweit verbreiteten Risikobewußtseins scheint die- se Abschottung langsam brüchig zu werden. Die Wissenschaft wird aufgefordert, die von ihr erzeugten Folgen und Risiken für die Gesellschaft mitzubedenken (siehe Janasoff und Wynne[14] S. 24ff.). Das Entstehen und das rasche Wachstum von Technologiefolgen- und Risikoforschung zeigt, daß das Wissenschaftssystem die Herausforderung angenommen hat. Diese Forschung hat sich am Rande des Wissenschaftssystems etabliert, so als ob es sich um ganz normale Forschung handeln würde. Dabei wird leicht übersehen, daß die Wissenschaft in reflexiver Einstellung selbst über sich forscht. Gerade der Risikodialog macht die Selbstbezüglichkeit dieser Art des wissenschaftlichen Handelns bewußt. Damit ist nicht so sehr gemeint, daß auch wissenschaftliches Forschen Risiken und Gefahren beinhaltet, die auf Grund der hypothetischen Basis jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens entstehen. Man kann z.B. falschen Hypothesen nachgehen und statt Wahrheit Unwahrheit erzeugen. Oder es wird viel Geld in die Konstruktion einer Theorie gesteckt, die dann von jemand anderem ohne großen Aufwand entwickelt wird. Das Telos der Wissenschaft, neues Wissen zu produzieren, das sich im Dauerbetrieb der Wissensproduktion und heute im verstärkten Maß in der Anwendung bewähren muß, ist immer mit dem zunehmenden Risiko des Scheiterns belastet. Dies sind, um mit Perrow[15] zu sprechen, ganz normale Risiken des wissenschaftlichen Arbeitens. Neuartige Probleme hingegen stellen sich für die Wissenschaft bei der Erforschung unerwünschter Folgen wissensbasierter Technologien, die in der Natur und Gesellschaft auftreten. Die Wissenschaft wird mit Fragen konfrontiert, die nicht ihrer eigenen Sicht- und Arbeitsweise entstammen. Wie Alvin M. Weinberg[16] schon sehr früh beobachtet hat, wird sie mit Fragen konfrontiert, die sie nicht beantworten kann. Kein Wunder, daß in diesem Zusammenhang transdisziplinäre Erkenntnis oder zumindest transdisziplinäre Forschung gefordert wird, die aber gleichwohl mit den Methoden und nach den Rationalitätskriterien der Wissenschaft produziert werden soll. Transdisziplinarität findet nicht außerhalb und als Alternative zur Wissenschaft statt, sondern ist selbst Wissenschaft.[17-19] Wissenschaft ist gezwungen, über ihre eigenen Anwendungsbedingungen und Anwendungsfolgen zu reflektieren – und sie kann dies nicht anders als mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden.[20] Über die Riskanz der Risikoforschung und über die Folgen der Folgenforschung in Politik und Wirtschaft werden heute schon Expertisen angefertigt und in den wissenschaftlichen Arbeitsprozeß eingespeist. Risiken der Kommunikation 116 GAIA 9 (2000) no. 2 Indem die Wissenschaft sich mit Risikolagen und gesellschaftlichen Unsicherheiten beschäftigen muß, wandeln sich wissenschaftlich garantierte Sicherheiten in Unsicherheiten. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat versucht, aus diesem Dilemma mit einer Risikotypologie gravierender Gefahren einen Ausweg zu suchen.[21] Nun haben solche Klassifikationen immer etwas Provisorisches und Voluntaristisches an sich. Eine neue Katastrophe, ein unbekanntes Virus, schon muß das Schema erweitert werden. Auch wird es kaum der Dynamik der Gefahrenlagen gerecht, die im Laufe ihrer Entwicklung mehrere Typen durchlaufen können. Um die neuartigen Probleme der Gefährdungen, denen sich die Wissenschaft heute gegenübergestellt sieht, in ihrer Struktur besser erfassen zu können, gehen wir von einer Analyse der gesellschaftlich erzeugten Unsicherheit aus und fragen, warum gerade heutzutage die Risikosemantik weltweit eine führende Rolle erhalten hat, wenn die Zukunft der Gesellschaft thematisiert wird.[22] Westliche Industriegesellschaften zeichnen sich – im historischen Vergleich gesehen – durch ein hohes Maß an sozialer Sicherheit aus, die durch die unterschiedlichsten Versicherungssysteme gewährleistet wird. Hinzu kommt, daß die Lebenserwartung der Bevölkerung ständig steigt, weil durch ein umfassendes Gesundheitssystem Seuchen, Epidemien und viele Krankheiten entweder verhindert oder in ihren Wirkungen stark gemildert werden. In einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten keine ernstlichen Kriegsgefahren kennt, muß es verwunderlich erscheinen, daß Zukunftsfurcht zu einem öffentlichen Thema und Anlaß zu Protesten gegen neue Technologien geworden ist.[23] Wie kommt es, so kann man fragen, daß die Zukunft heute wesentlich unter dem Aspekt des Risikos und nicht mehr des Fortschritts interpretiert wird? Mindestens in drei Diskursen der Gesellschaft wird die Gefährdung der Gesellschaft durch sich selbst thematisiert:[24] a) Zum einen handelt es sich um die Folgen der Anwendung sogenannter Hochtechnologien. Mögen diese nun auf wissenschaftlichen Grundlagen der Physik, Chemie oder Biologie beruhen, in jedem Fall sind diese Technologien mit einem hohen Katastrophenpotential belastet. Kommt es zu Störfällen oder gar zum vollständigen Versagen, so stehen die Schäden in keinem Verhältnis mehr zu dem Nutzen und Zweck der Technik. Darüber hinaus versagen auch die bestehenden Kompensationsmöglichkeiten mittels der Haftung durch die Betreiber, insofern das Schadensausmaß so verheerend ist, daß es jenseits der Versicherbarkeit liegt.[25] Für Hochtechnologien ist charakteristisch, daß die katastrophalen Folgen durch nicht mehr kontrollierbare Störungen entstehen, da ihre Struktur eine so hohe Komplexität aufweist, sowohl in bezug auf die Kopplung der Elemente als auch in bezug auf die Kompliziertheit der in ihnen ablaufenden Prozesse, daß es keine vollständige Beherrschung geben kann.[15] Unglücksfälle können nur noch unwahrscheinlich gemacht, aber nicht mehr ausgeschlossen werden. Genau dies macht auch das hohe Konfliktpotential aus, mit dem diese Technologien belastet sind. Wenn sich die Katastrophenträchtigkeit nur eindämmen, aber nicht beseitigen läßt, verwandelt sich das technische Problem der Sicherheitsmaßnahmen in das soziale Problem der Akzeptanz von möglichen menschlich erzeugten Katastrophen. b) Im Laufe der Risikodebatte hat sich gezeigt, daß, wie man z.B. bei der Gentechnologie beobachten kann, neben dem mit ihrem möglichen Katastrophenpotential verbundenen Risiko noch eine weitere Dimension von Unsicherheit gesellschaftlich produziert wird. In der Auseinandersetzung geht es nicht nur um die mögliche ungewollte und unkontrollierte Verbreitung von gefährlichen Produkten genetischer Manipulation, sondern an der Gentechnologie wird schlagartig das zunehmende Mißverhältnis von Handlungsabsichten und Folgewirkungen technisch bedingter Handlungen bewußt. Mit Hilfe der Gentechnologie kann der Mensch die Bedingungen seiner eigenen Evolution zu mani- pulieren versuchen. Gentechnologie greift, gerade weil sie die sich selbstproduzierenden Mechanismen der biologischen Grundlagen des Lebens dem Zugriff des Menschen zugänglich macht, tief in das kulturelle Selbstverständnis und die Identität des Menschen ein.[26] c) Ein dritter Typ von Unsicherheitsproduktion entsteht bei den völlig unspektakulären Folgen alltäglicher Handlungen. Gemeint sind damit die langfristigen ökologischen Veränderungen durch tagtägliches Handeln und Entscheiden, sei es der Autoverkehr, die CO2-Produktion, das Abholzen der tropischen Regenwälder oder auch der massenhafte Verbrauch von Waschmitteln. Die Folgen dieses Verhaltens schlagen sich nieder im Waldsterben, der möglichen Klimaveränderung oder in der irreversiblen Verschmutzung unseres Grundwassers. Kennzeichnend für diese Art millionenfacher täglicher Gefahrenlagen ist zum einen, daß eine längere Zeitdistanz zwischen Ursachen und Wirkungen liegt, zum anderen, daß bei den Folgen extrem viele Faktoren mitwirken (Waldsterben, Klimaveränderung). Weiterhin ist charakteristisch, daß die Wirkungen nur noch mittels des Einsatzes von Wissenschaft und Technik überhaupt wahrgenommen werden können und daß Handlung, Folgen und Verursacher so weit auseinandertreten, daß keine eindeutige Beziehung mehr festzustellen ist. Letzteres gilt insbesondere, da ja nicht nur ein Verursacher Schuld an dem erzeugten Schaden hat, sondern die Gefährdung und Schädigung nur durch das Zusammenwirken vieler entsteht, manchmal sogar auf Tabelle 1. Die wissensbasierte Ökonomie, 1995/1996 Italien Japan Australien Deutschland c OECD EU USA Großbritannien Frankreich Schweden Kanada Investitionen in Wissen und Sachwerte in Prozent des Bruttosozialprodukts (1995)a Anteil der Wertschöpfung wissensintensiver Unternehmen an der gesamten privaten Wertschöpfung 1995 bzw. 1996b Wissen 6,1 6,6 6,8 7,1 7,9 8,0 8,4 8,5 10,2 10,6 8,8 Wissensökonomie 41,3 53,0 48,0 58,6 50,9 48,4 55,3 51,5 50,0 50,7 51,0 (Sachwerte) (18,0) (28,5) (22,6) (21,4) (20,1) (19,0) (16,9) (16,3) (17,9) (14,6) (16,9) a Die Gesamtsumme der Ausgaben für Forschung- und Entwicklung (minus der Aufwendungen für Anlagen, Geräte etc.), des staatlichen Schul- und Hochschulwesens, sowie der Ausgaben für Software (auschließlich der von privaten Haushalten). b Die OECD zählt in dieser Untersuchung soziale Dienstleistungsunternehmen, Kommunikationsunternehmen, den Finanz- und Versicherungssektor, Unternehmen des Herstellungssektor, die durch eine hoch- bzw. eine mittlere technologische Ausstattung gekennzeichnet sind, zu den wissensbasierten Unternehmen des Herstellungs- und Dienstleistungssektors. c Westliche Bundesländer Quelle: OECD[45] Risiken der Kommunikation 117 GAIA 9 (2000) no. 2 Nicht-Wissen Verantwortlicher Umgang mit Nicht-Wissen – dazu gehört auch, sich über den Charakter dieses Nicht-Wissens klarzuwerden. Man kann hier vier Typen unterscheiden (1) Ein prinzipielles Nicht-Wissen als „Wissen, das wir nicht wissen können“. Dies betrifft beispielsweise letztbegründende Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des menschlichen Lebens und ähnliches. (2) Noch nicht »bereitgestelltes« Wissen, das aber im Prinzip erworben werden kann; auch wenn wir noch nicht darüber verfügen, kann als wahrscheinlich gelten, daß spätere Generationen dieses Wissen haben werden. (3) Wissen, das zwar vorhanden ist, auf einen bestimmten Einzelfall aber noch nicht angewendet wurde; hier ist Denken in Metaphern und Analogien gefragt, um Gemeinsamkeiten zu entdecken, die bisher nicht gesehen wurden, oder um bereits bekannte Bereiche neu zu sortieren und zu organisieren.[46] (4) Der Standardtyp des Nicht-Wissens: Ein Sachverhalt ist bereits bekannt, lediglich eine bestimmte Person oder Gruppe weiß dies (noch) nicht. Dieses Nicht-Wissen kann durch zusätzliche Informationen, durch Lernen ausgeglichen werden. Auf die Technikbewertung bezogen, bedeutet der vierte Typ: Das Wissen um die Folgen einer bestimmten Technik liegt zwar bereits vor, ist denjenigen, die über den Einsatz dieser Technik im konkreten Fall zu entscheiden haben, aber nicht bekannt. Dieses Informationsdefizit läßt sich im Zuge eines Technikbewertungsverfahrens ausgleichen, bei dem Fachleute unterschiedlicher Disziplinen und Betroffene zusammenkommen. Aus: W. Zimmerli: „Informationstechnologie und kreative Kompetenz“ in: Management 93. Ein Lesebuch, Gabler, Wiesbaden (1992) S. 23–33 Generationen verteilt. Dies alles bewirkt, daß es schwerfällt und vielleicht sogar unmöglich ist, Grenzwerte anzugeben, ab welchem Zeitpunkt eine Schädigung beginnt, mit welchen Maßnahmen sie zu bekämpfen ist oder wer eigentlich zur Verantwortung zu ziehen sei. Neben der Langfristigkeit bereitet auch zusehends die Globalität der kumulativen Folgen ökologischer Gefährdungen Probleme beim Ergreifen rechtzeitiger Abwehrmaßnahmen.[27] Es geht ja nicht nur um die Feststellung des Ursachenmechanismus, was bei vielen Umweltschädigungen selten gelingt, sondern hinzukommen muß, daß diese Schäden als solche auch anerkannt werden, um entsprechend handeln zu können. Die wechselseitige Beziehung von Erkennen und Anerkennen macht das eigentliche Problem der Früherkennung oder Vorsorge aus.[28] Diese drei Bereiche der Selbstgefährdung der Gesellschaft erzeugen die Unsicherheit in Wissensgesellschaften. So verschieden auch die angeführten Beispiele sein mögen, eines haben sie gemeinsam: daß es sich bei ihnen um Deutungen handelt, wie jeweils die Zukunft zu gestalten sei: denn, darauf hat Franz-Xaver Kaufmann[24] hingewiesen, wie groß die Gefahr wirklich ist, kann keiner heute mit Sicherheit voraussagen. Die Moderne zeigt im Blickwinkel der Risikothematik eine „unaufhebbare Ambivalenz“.[29] Dies sei kurz an den drei Fällen Hochtechnologie, Gentechnologie und ökologische Folgen demonstriert. Die Entwicklung von Hochtechnologien hat zu komplexen und schwer kontrollierbaren technischen Gebilden geführt, wobei die Gefahr besteht, daß deren eigentliche Zwecksetzung, Energie, Werkstoffe usw. zu erzeugen, durch ihre damit verbunde- nen Nebenfolgen (Auswirkungen auf Mensch und Natur) zunehmend überwuchert wird. Nicht nur, daß durch zunehmende Sicherheitsmaßnahmen die Technik nicht nur nicht sicherer wird, sondern es steigt, wie empirische Studien zeigen, bei weiteren Sicherheitsvorkehrungen die Komplexität des Gesamtsystems und damit auch dessen Störanfälligkeit.[30] In der Gesellschaft wird bewußt, daß die technisch erzeugten Risiken nicht beseitigt, sondern bestenfalls in eine andere Art der Unsicherheit überführt werden können.[31] Und genau dieser Sachverhalt führt zu einem weitverbreiteten Kontingenzbewußtsein dergestalt, daß sowohl bewußt wird, daß auch andere Entscheidungen möglich wären, als auch, daß die Katastrophe von niemandem ausgeschlossen werden kann, so minimal ihre Eintrittswahrscheinlichkeit auch bestimmt werden mag. Das Beispiel Gentechnologie belegt, daß im Risiko auch die Chance mitgegeben ist zu gestalten. Erst wenn man Gefahren der Denaturalisierung des Menschen in Risiken verwandelt, also ohne Rücksichtnahme auf metasoziale Regeln (Religion, Tradition) die Chancen und Nachteile eines Eingriffs in die Evolution zu kalkulieren beginnt, kann man wissenschaftlich-experimentell in den Leben erzeugenden biologischen Mechanismus eingreifen. Je mehr man in den Gestaltungsbereich menschliches Handeln einbezieht, um so rascher ändern sich die gesellschaftlichen Strukturen, d.h. sie werden entscheidungsabhängiger, gleichzeitig nehmen aber auch die nichtvorhergesehene Handlungsfolgen zu, und, was vielleicht ausschlaggebend ist, die Zukunft wird unbestimmbarer, da diese dann auf Entscheidungen beruht, die so oder auch anders ausfallen können.[32] Das Nichtwissen wird in seiner Bedeutung für Entscheidungen mit Zukunftscharakter konstitutiv.[33] Das schwierigste Problem jedoch dürften die ökologischen Folgeprobleme sein. Veränderungen der Natur, aber auch der von Menschen erzeugten zweiten und dritten „Natur“ geschehen in schneller oder langsamer Art, plötzlich oder schleichend. Sie werden durch kaum erkennbare Ursachen oder durch Massenhandeln ausgelöst. Veränderungen des Ökosystems lassen sich weder linear noch kausal interpretieren. Sie sprengen somit alle bisher bekannten klassischen Analysemodelle und an Kausalitätsvorstellungen gebundene Realitäts- und Handlungsrahmen. Sie machen die Komplexität und Kontingenz der Welt in großem Maßstab bewußt, da die synergistischen Effekte gerade durch das Handeln vieler Menschen erzeugt werden. Hier wird Unsicherheit durch Zurechnung geschaffen. Zum einen ist man unsicher, ob die erforschten Kausalitäten für das entstehende Problem wirklich Geltung haben (Waldschaden) oder ob nicht ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Zum anderen werden immer mehr Folgen und Auswirkungen dem Menschen zugerechnet (Klimakatastrophe), ohne genau zu wissen, ob nicht vielmehr bisher noch nicht beeinflußbare Bedingungen der Naturevolution für die Veränderungen verantwortlich zu machen sind. Gesteigerte Verantwortlichkeit bei zunehmender Ungewißheit könnte man diesen Sachverhalt nennen.[34] Die Risikosemantik signalisiert somit eine neue Unsicherheit in der Gesellschaft, die in der bewußt als kontingent wahrgenommenen Zukunft liegt. Risiko unter diesem gesellschaftstheoretischen Aspekt meint damit, daß mögliche Schäden auf das Entscheidungsverhalten schon heute zugerechnet werden, wobei Wissen über das Ausmaß der Schädigung, den Eintritt des Schadens und ob es überhaupt zur Schädigung kommen wird, nicht gewonnen werden kann. Das Nicht-Wissen (Unkalkulierbarkeit der Entscheidungsfolgen) wird zum Bestandteil der Entscheidung. Nur eines ist gewiß, es muß entschieden werden; da keine gesellschaftliche Instanz sichtbar ist, der man die zukünftigen Schäden zurechnen kann, bleibt nur die Entscheidung unter Unsicherheitsbedingungen. 4. Die Verwissenschaftlichung der Risikothematik Seit Beginn der Risikoforschung war es ihr erklärtes Ziel, Risiken einer rationalen Kalkulation zu unterwerfen. Hierfür wurde aus den unterschiedlichsten Disziplinen Risiken der Kommunikation 118 GAIA 9 (2000) no. 2 Anleihen gemacht. Zur traditionellen statistischen Behandlung von Risikokalkulationen traten wirtschaftswissenschaftlich orientierte Analysen, spieltheoretische Kalkulationen und entscheidungstheoretisch inspirierte Überlegungen, die mit Erwartungen und Präferenzen rechneten. Erst später traten sozialwissenschaftliche Forschungen hinzu, die zeigten, daß der „reale“ Mensch anders Risiken kalkulierte als es die Wissenschaft mit ihren formalen Modellen von ihm verlangte (siehe den Überblick von Banse und Bechmann[35]). Diese Bemühungen resultierten in dem Vorschlag, Risiko als Produkt aus der Schadenshöhe und dem Wahrscheinlichkeitsgrad des Eintritts des Schadens zu bestimmen. Damit meinte man ein universelles Maß des Risikos gefunden zu haben. In den daran anschließenden Kontroversen wurde diese Risikobestimmung jedoch ihrer so eleganten formalen Form entkleidet. Die Kritik des formalen Risikobegriffs führte zu einer inhaltlichen Bestimmung von Risikokonflikten, wie im folgenden gezeigt wird. 4.1. Kritik am formalen Risikobegriff In den Anfängen wurde die Risikoforschung durch die Unterscheidung subjektives versus objektives Risiko beherrscht. Als subjektives Risiko bezeichnete man das vom einzelnen Individuum wahrgenommene Risiko, während objektives Risiko das von der Wissenschaft als exakt ermittelte und nach formalen Prinzipien kalkulierte Risiko bedeutete. Die Differenz subjektives/objektives Risiko fand ihren Ausdruck in der Debatte über die Risikoformel. Erklärtes Ziel dieser Forschung war es, ein universell gültiges Risikomaß zu entwickeln, mit dessen Hilfe man die unterschiedlichsten Risikotypen vergleichbar machen konnte. Man hoffte, daß es dadurch möglich würde, eine rationale Klärung der Akzeptierbarkeit der unterschiedlichsten Risiken zu erreichen, je nach Grad ihrer Wahrscheinlichkeit und der Schwere ihrer Schäden. Kern dieser Überlegungen bildete die aus der Versicherungswirtschaft entliehene Formel, wonach das Risiko (R) gleich dem Produkt der Wahrscheinlichkeit (W) und des Schadensausmaßes (S) ist. Sie ist immer dann anwendbar, wenn sich quantitative Maße anbieten, auf die verschiedenartige Nutzen- und Schadensaspekte projiziert werden können. Ein einheitliches Maß für Nutzen und Schäden konnte nicht gefunden werden. Auch für Schäden allein war dies nicht möglich. Selbst die Umrechnung der unterschiedlichsten Schäden in Geldeinheiten führte zu willkürlichen und stark umstrittenen Ergebnissen. Bei der zweiten Komponente, der Wahrscheinlichkeitsberechnung, geriet man an die Grenzen des objektiv Wißbaren, wie das Beispiel der Kernreaktorschmelze zeigt. Solange keine zureichenden empirischen Fälle vorliegen, kann man nur subjektive Wahrscheinlichkeiten angeben, bei denen bei genauer Betrachtung Wunschdenken des jeweiligen Schätzers eine erhebliche Rolle spielt.[36] Die Formel R = W x S sollte ein Modell für rationale Entscheidungen liefern, weil man hier die Möglichkeit sah, unterschiedliche Aktivitäten und potentielle Schäden miteinander in Beziehung zu setzen. Durch die Formalisierung wollte man die unterschiedlichen Risikoquellen nach einem formalen Kalkül, unabhängig von persönlichen oder sozialen Interessen zu bewerten. Die Abstraktion von qualitativen Differenzen innerhalb der Schadensdimension und die Enthistorisierung der Zeitdimension durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung sind der Preis für ein allgemeingültiges und universelles Risikomaß zur Abschätzung der gesellschaftlich erzeugten Risiken (kritisch dazu Rapoport[37]). Die Krise des objektiven Risk-Assessment begann mit zwei Einsichten: daß es selbst in den Sicherheitswissenschaften keinen einheitlichen Risikobegriff geben kann und daß die aus der Kaufmannssprache geborgte Formel von R = S xW gerade dann in der Öffentlichkeit nicht verstanden und akzeptiert wurde, wenn es sich um ein enormes Gefährdungspotential durch neue technische Anlagen handelte.[38] 4.2. Zur Differenz Entscheider und Betroffener Die Verwandlung von Gefährdungstatbeständen in formale Kalkulationen birgt sozialen Konfliktstoff. Gerade bei Risiken, die nicht allein individuelle Handlungsoptionen betreffen, sondern die Betroffenheit Dritter einbeziehen, ist die Entscheidung über Risiken von der Schädigungszumutung gegenüber anderen nicht von der eigentlichen formalen Kalkulation zu trennen. Dies vor allem nicht, wenn über den erwartbaren Schadensumfang keine eindeutigen Aussagen möglich sind. Die Frage nach der Sozial- und Umweltverträglichkeit, einem normativen Kriterium, ist somit unweigerlich mitgegeben. Ebenso wie bei der Grenzwertbestimmung gibt es auch hier keine objektive Grenze, die festlegt, ab welchem Wert eine Sache schädliche Auswirkungen hat oder ab wann sie als unbedenklich für die Gesundheit der Menschen angesehen werden kann. Vielmehr stellen Risikofestlegungen und Grenzwerte Ergebnisse von Konsens/Dissens-Prozes- sen dar, bei denen widerstreitende Interessen ausgeglichen werden müssen. Mit der Entwicklung und Implementierung neuer Technologien und der zunehmenden Zahl irreversibler Eingriffe in die Umwelt entsteht eine neue Konfliktlinie, die Entscheider und Betroffene trennt und die durch die Unterscheidung Risiko/Gefahr als Streitthema symbolisiert wird. Luhmann hat dies durch die theoretische Ausarbeitung der Differenz von Risiko und Gefahr begrifflich auf den Punkt gebracht. Um Risiken handelt es sich immer, wenn etwaige künftige Schäden auf die eigene Entscheidung zurückgeführt werden; um Gefahren handelt es sich dagegen bei von außen kommende Schäden, die der Betroffene nicht beeinflussen kann (siehe Luhmann[33] S. 30/31). Obwohl heute alle Gefährdungen technischer oder ökologischer Art durch Handeln und Entscheiden verursacht werden – nichts anderes besagt die These von der Gefährdung der Gesellschaft durch sich selbst – werden die technologisch-ökologischen Bedrohungen von den einen als Risiken, von den anderen als Gefahren wahrgenommen, und – es wird entsprechend gehandelt. Dies hat mehrere Gründe: – Bei technisch-ökologischen Risiken fallen Kosten und Nutzen auseinander bzw. sind diese nicht auf eine Person bezogen, so daß eine Kosten/Nutzen-Kalkulation für die Entscheidung nicht mehr instruktiv ist. Viele, die durch neue Technologien besonders gefährdet sind, wie z. B. Anwohner von Kernkraftwerken, Bewohner bestimmter industrialisierter Regionen oder Nachbarn von chemischen Großanlagen, müssen überproportionale Nachteile ertragen, während der Nutzen auf alle verteilt wird. – Zweitens sind heute Risikoverursacher oder genauer Risikoentscheider prinzipiell von den Risikobetroffenen unterschieden. Dies ist sicher zum einen Folge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit ihren Funktionssystemen: Entscheidungen und Entscheidungsfolgen fallen nicht mehr räumlich, zeitlich und sozial zusammen, da die Handlungs- und Wirkungsketten ungemein verlängert worden sind. Zum anderen lassen sie sich ohne wissenschaftliche Meßgeräte kaum wahrnehmen und auf Grund ihrer Komplexität nur schwer den Verursachern zurechnen.[39] – Drittens: Technisch-ökologische Gefährdungen sind soziale Risiken. Sie werden einem aufgelegt, man geht sie nicht freiwillig ein. Ob nun ökologische Risiken durch das Handeln vieler verursacht werden (Waldsterben) oder technische Risiken durch die Entscheidungen weniger entstehen, eines ist sicher: Der Einzelne hat sie weder gewollt, noch konnte er über die Bedingungen, unter denen sie eingegangen Risiken der Kommunikation 119 GAIA 9 (2000) no. 2 wurden, mitentscheiden. Sie werden gewissermaßen ohne sein Wissen, Wollen und Mitwirken in die Welt gesetzt. Angesichts dieser Lage bleibt dem Einzelnen nur übrig, sich den Gefahren zu entziehen, sich damit abzufinden – oder zu protestieren. Mit anderen Worten: Sobald riskante Entscheidungen auf dem Gebiet der Ökologie oder Technik getroffen werden, entsteht die Differenz Entscheider/Betroffener. Entscheidend ist nun, daß diese Differenz nicht mehr Personen trennt, nicht mehr klassenspezifisch diskriminiert oder soziale Unterschiede macht. Die Trennung Entscheider/Betroffener zielt auf Funktions- und Machtaufteilung. Wer entscheiden darf und wer Betroffener ist, stellt somit eine soziale Zurechnungsfrage der Selbst- und Fremdzuschreibung dar, die auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene entschieden wird. Die Differenz ist mit den Funktionen der Teilsysteme mit institutionalisiert. Hier liegt übrigens auch ein Grund dafür, daß sich der ökologische Protest so schlecht auf Dauer organisieren läßt: Er läuft in die Fallstricke der gesellschaftlichen Differenzierung. Entsprechend sind auch die Perspektiven different. Aus der Entscheidungsperspektive stellt sich die Bedrohung als ein Risiko dar, aus der Betroffenenperspektive als eine Gefahr. Der Entscheider versucht, die Entscheidung mit Hilfe von Kalkulationen, Abschätzungen, Szenarien usw. zu rationalisieren. Er geht sogar soweit, die Sicht des Betroffenen mit zu berücksichtigen, indem er die Frage der Akzeptanz einkalkuliert und sogar Aufklärung über das Risiko betreibt. Die Entscheidung über mögliche Risiken mag noch so komplex und voraussetzungsreich angelegt sein, eines kann sie nicht: das Risiko als Gefahr sehen und damit auf Betroffenheit umschalten. Umgekehrt nimmt der Betroffene die Folgen der riskanten Entscheidung als Gefahren wahr. Der Betroffene sieht sich einer Gefahr ausgesetzt, über deren Entstehung er nicht mitentschieden hat, die er nicht kontrollieren kann, der er ausgeliefert ist und von der er nur weiß, daß sie aus der Sicht des Verursachers ein Risiko darstellt – es bleibt ihm die Unsicherheit und Angst. Führt man sich diese wechselseitige Ausschließlichkeit von Gefahrenstandpunkt und Risikostandpunkt vor Augen, so kann man sehen, daß hier ein neuer Konflikt entstanden ist, der bei jeder öffentlichen, aber auch privaten Entscheidung aufbrechen kann, sobald Risiko im Spiel ist. Es ist schwer absehbar, nach welchen Metakriterien dieser Antagonismus zu regulieren ist. Als Ergebnis der Debatte kann man drei wesentliche Erkenntnisse festhalten: – Erstens hat analog zum Entstehen des Wissenskonzepts, das wir oben diskutiert haben, die lebhafte akademische Debatte in der Risikoforschung gezeigt, daß es kein objektives oder kontextfreies Risikokonzept gibt. Es gibt keine Risikodefinition, die universell akzeptiert wird und sich grundlegend von einem Alltagskonzept auf der Basis des gesunden Menschenverstandes unterscheidet. Statt dessen wird Risiko als soziales Konstrukt betrachtet, welches unterschiedliche Bedeutung hat und nur unter Bezug auf spezifische soziale Kontexte und Zwecke verstanden werden kann.[40] – Zweitens hat man gelernt, daß die Risikokommunikation in der modernen Gesellschaft eine neue Struktur des gesellschaftlichen Konflikts erzeugt hat, der möglicherweise sozial und politisch mehr Sprengstoff in sich bergen kann als sämtliche alten Verteilungskämpfe des Wohlfahrtsstaates. Bisher gibt es noch keine allgemeinen Regeln, Verfahren oder Institutionen, die diesen Konflikt regulieren können.[41] – Drittens, und dies ist besonders hervorzuheben, gibt es eine Rückkehr der grundlegenden Unsicherheit in die Gesellschaft – falls sie sich jemals wirklich von ihr verabschiedet hatte – und diejenige Institution, die solche Unsicherheit mitproduziert, ist die Wissenschaft. Gleichzeitig sieht man aber, das diese Unsicherheit nicht durch besseres oder sicheres Wissen zu beseitigen ist, sondern die Wissenschaft und Politik haben sich auf ein Risikomanagement unter Unsicherheitsbedingungen einzustellen.[42] 5. Entscheidungsrisiken im Kontext fragilen Wissens Versucht man, einige Schlußfolgerungen aus dem bisher Gesagten zu ziehen, so drängt sich zunächst der zentrale Stellenwert auf, den das Nicht-Wissen in der Risikosemantik einnimmt. Positive oder negative Folgen aus Entscheidungen in bezug auf Technologien oder ökologische Veränderungen sind mit hohen Unsicherheiten belastet, so daß letztlich nur mehr oder weniger plausible Meinungen darüber existieren, womit man in Zukunft zu rechnen hat. Und dies gilt auch für die Wissenschaft. Gerade weil man unsicher ist, möchte man durch wissenschaftlich erzeugtes Wissen Sicherheit erlangen. Wissenschaft, so Max Weber, bedeutete Entzauberung der Welt unter dem Aspekt der Berechenbarkeit. Universalität wissenschaftlicher Erkenntnis heißt nicht, daß alle Entscheidungen in der Moderne auf Grund wissenschaftlichen Wissens getroffen werden, sondern, daß man, wenn man nur wolle, alle Dinge durch Berechnung beherrschen könne. Genau dieser Glaube wird durch die Risikoproblematik unterminiert. Dies geschieht sowohl in sachlicher als auch sozialer und zeitlicher Hinsicht. In sachlicher Hinsicht steht Risikowissen unter dem Damoklesschwert der Hypothetizität. Gemeint ist damit, daß das Trial-and-error-Verfahren, d.h. die sukzessive Anpassung technischer Systeme an situative Erfordernisse, in vielen Fällen ersetzt wird durch eine wissenschaftlich ausgearbeitete Langfristplanung und probabilistische Risikoanalysen, die nur noch hypothetische Annahmen über die Wirklichkeit machen können. Praktische Erfahrungen und empirische Forschung werden zunehmend durch Modelle, Szenarien, Idealisierungen ersetzt. Empirisches Wissen wird durch subjektive Wahrscheinlichkeitskalküle verdrängt, Schadenspotentiale und Schadenswahrscheinlichkeiten können nicht mehr durch Erfahrungen, durch Versuch und Irrtum ermittelt, sondern müssen gedanklich antizipiert werden, da Tests nicht im ausreichenden Maße durchgeführt, Beobachtungen oder Experimente nicht beliebig wiederholt werden können oder nicht einmal durchgeführt werden dürfen. Sozial zeigt sich, daß die Wissenschaft ihre Autorität durch den Expertenstreit einbüßt. An den fortgeschrittenen Produkten der Technik macht sich zunehmend ein gesellschaftsrelevantes Syndrom aus Mißtrauen und Unsicherheit fest, das politischen Konfliktstoff in sich birgt. Bei jedem neuen Unglücksfall entladen sich die aufgestauten Spannungen und lassen die öffentliche Meinung explodieren. Das technische Risiko ist in den letzten zwanzig Jahren zum Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Unsicherheiten und Ängste geworden. Der Fortschrittsglaube selbst ist an seine Grenze gestoßen und schlägt um in Mißtrauen gegenüber den tragenden Institutionen der wissenschaftlich-technischen Welt. Mit der Abnahme verläßlichen Wissens auf der Basis eigener Erfahrung zugunsten wissenschaftlich erzeugten, hypothetischen und jederzeit revidierbaren Wissens wird die Glaubwürdigkeit staatlicher Entscheidungen bedroht. Diejenigen, die nach unseren Verfassungsnormen legitimiert sind, im Namen des Allgemeinwohls zu entscheiden, hängen in ihrer Meinungsbildung von Expertengremien ab; diejenigen, die Entscheidungswissen besitzen, sind nicht legitimiert, solche Entscheidungen zu treffen. Ergebnis dieses Prozesses ist der Verlust einer klar geschnittenen Verantwortungsstruktur, der es bei Fehlentscheidungen unmöglich macht, die Verantwortung eindeutig zuzurechnen. Risiken der Kommunikation 120 GAIA 9 (2000) no. 2 In zeitlicher Hinsicht erzeugt der wissenschaftlich-technische Fortschritt einen Bedarfsüberhang nach Wissen gegenüber der faktischen Wissenserzeugung. In dem Maß, in dem sich die technische Entwicklung beschleunigt und laufend Änderungen verursacht, bedarf jede Entscheidung – bedingt durch die vermehrte Beteiligung unterschiedlicher Instanzen und bedingt durch die Einbeziehung immer weiterer, komplexer Nebenfolgen – zunehmend mehr Zeit. Während diese Zeit verstreicht, ändern sich die Daten, aufgrund derer überhaupt ein Entscheidungsbedarf entstanden ist. Will man trotzdem zum Abschluß des Entscheidungsprozesses kommen, muß man zum großen Teil diese Daten ignorieren. Die Entscheidung wird auf der Basis fiktiver Tatsachen getroffen. Marquard sieht hierin einen allgemeinen Zug unserer technischen Kultur: die Zunahme des Fiktiven.[43] Der Umgang mit Nicht-Wissen wird so zur entscheidenden Variable bei Entscheidungen. Da wir die Zukunft nicht kennen können, ist es um so wichtiger, wie dieses Nicht-Wissen in öffentlichen Entscheidungssystemen prozessiert wird; daß diese Problemlage noch relativ neu ist, erkennt man daran, daß es bisher hierfür noch keine ausgearbeiteten Theorien gibt, geschweige denn sich schon Verfahren oder Routinen abzeichnen, die diese neuen Unsicherheiten bewältigen können.[33] Eine Risikotheorie der Moderne muß sich aber diesen Problemen stellen, wie auf Grund basaler Unsicherheit Lernprozesse zu organisieren und Entscheidungen unter Ungewißheit in hochorganisierten Sozialsystemen zu treffen sind. Daß dies faktisch schon immer geschieht, zeigt, daß auch die Wissenschaft nur eine Perspektive auf die Risikoproblematik unter vielen ist. 6. Wissenschaft und Nichtwissen Als Schlußfolgerung kann man eine widersprüchliche Einsicht festhalten. Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft und ihre vielfältige gesellschaftliche Anwendung haben dazu geführt, daß sie in entwickelten Gesellschaften ein weitgehendes Monopol auf die Produktion gesellschafts-relevanten Wissens besitzt, das ihr weder durch die Religion, noch durch die Politik und schon gar nicht durch die Alltagserfahrung streitig gemacht werden kann. Sie ist in ihrer Funktion, Neues zu erforschen und dadurch den Entscheidungs- und Handlungsspielraum in der Gesellschaft zu erweitern, durch nichts er- setzbar. Sofern man gesichertes und akzeptiertes Wissen erhalten möchte, gibt es in der Gesellschaft keine andere Adresse als die des Wissenschaftssystems. Gleichzeitig muß sie dieses Wissens als hypothetisches präsentieren, das in Zukunft auch anders aussehen könnte. Die Wissenschaft erzeugt eine eigene Art der Unsicherheit, indem jedes neue wissenschaftlich gewonnene Wissen auch neue Bereiche des Nichtwissens markiert, ohne das ein Fortschreiten der Wissenschaft nicht möglich wäre.[44] Alles, was wir heute über mögliche ökologische oder technische Gefährdungen wissen, wissen wir nur auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen. Da wir aber auch wissen, wie dieses Wissen produziert wurde, sehen wir auch das damit verbundene Nichtwissen, sehen die Ausblendungen und die Vorläufigkeit dieses Wissens. Die Wissenschaft hat gerade auf Grund dieses Mechanismus insofern „Restrisiko“ ihre Legitimation verloren, als sie nicht mehr als Vertreterin des gesellschaftlichen Fortschritts oder als Sprecherin der Vernunft auftreten kann. Sie ist nicht die Instanz, bei der man das Richtige oder Wahre einfordern kann. Der zentrale Punkt dürfte sein, daß die Kontingenz des wissenschaftlich gewonnenen Wissens bewußt geworden ist und in der Gesellschaft als Nichtwissen kommuniziert wird. Mit der Auflösung der Fiktion, daß die Wissenschaft sicheres Wissen produziert, droht ein Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität in der Öffentlichkeit. Das durchaus Neue der gegenwärtigen Situation kann man darin sehen, daß die Kritik an der Wissenschaft nicht von außen als Moral, Religion oder Ideologiekritik daherkommt, sondern als Wissenschaft formuliert wird. Die Wissenschaft spricht über sich selbst wie über etwas Drittes (Luhmann). Und dieses Wissen wird wieder in Entscheidungen eingespeist als Wissen über Bedingungen, Kontexte und Folgen des Handelns, das auch hätte anders ausfallen können. Genau aus diesem Grunde wird man durch mehr Forschung nicht mehr Sicherheit erwarten können, sondern mehr Unsicherheit, da der Alternativenreichtum des Entscheiders reflexiv gesteigert wird. Hinzu kommt, daß der nachgefragte Wissensbedarf nicht mehr allein in Richtung technisch zu realisierender Zwecke liegt, sondern auf dem Gebiet der unerwünschten Nebenfolgen. Damit wird die Zukunft zu einem entscheidenden Parameter des Wissens. Offensichtlich besteht eine direkte Beziehung zwischen den vorhergesehenen und den nichtvorhergesehenen Folgen des Handelns. Je weiter sich der Zeithorizont des Entscheiders in die Zukunft hinausschiebt, desto wahrscheinlicher nehmen die unvorhergesehenen Folgen zu. Sachlich und sozial nimmt damit die Bedeutung des Nichtwissens für die Handelnden zu. Der Anteil des Handelns, von dem nur noch im Modus des Wahrscheinlichen bzw. Unwahrscheinlichen gewußt werden kann, wächst, und die Entscheidung selbst enthält als Basis eine nur fiktiv gesicherte Realität. Eine Reflexion auf diese Sachverhalte muß nicht auf Relativismus oder Beliebigkeit des Wissens hinauslaufen, sie macht aber bewußt, in welchem Maß die Wissenschaft selbst riskant geworden ist, indem sie zunehmend zum Lieferanten politischer Probleme wird, und wie Wissenschaft dadurch zu immer komplexeren Konstruktionen getrieben wird. Und dies in einer Gesellschaft, die gar nicht anders kann, als sich Risiken zu leisten. Das Entscheidende einer Wissenspolitik in der Wissensgesellschaft ist darin zu sehen, daß trotz aller Unsicherheit der Wissensproduktion die Wissenschaft der einzig legitime Weg ist, Wissen in der modernen Gesellschaft zu erzeugen. Nicht die Verkündung gesicherten Wissens ist ihre Aufgabe, sondern Management von Unsicherheit. Kern dieser Sichtweise ist die Kommunikation über die Unsicherheit und die Revidierbarkeit der eigenen Wissensproduktion im Austausch mit Öffentlichkeit und Politik. Literaturangaben [1] Nach: H. Diels, W. 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Arbeits- und Veröffentlichungsgebiete: Technik- und Umweltforschung, Risikoforschung, Innovationsforschung, Wissenschaftssoziologie, Gesellschaftstheorie. Nico Stehr, geboren 1942 in Berlin, seit mehr als drei Jahrzehnten Professor für Soziologie in Kanada. Zur Zeit Senior Research Associate, Sustainable Development Research Institute, University of British Columbia, Vancouver, British Columbia, Canada und Fellow im Hanse Wissenschaftskolleg. Er ist Fellow der Royal Society of Canada und Herausgeber des Canadian Journal of Sociology. Seine Forschungsinteressen befassen sich mit den sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgen der Transformation der modernen Gesellschaft in eine Wissensgesellschaft, sowie der Beziehung von Klima und Gesellschaft (zum Beispiel Klima, Mensch und Gesellschaft, mit Hans von Storch, 1999), den Verwendungszusammenhängen von wissenschaftlichen Erkenntnissen (z.B. 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